Unter dem karibischen Mond: KALINAGO – die letzten ihres Volkes

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Die Karibik mit ihrer Inselwelt ist für nicht wenige Menschen eine Sehnsuchtsort mit traumhaften Stränden und sich im warmen Wind wiegenden Palmen. Der Name der Region geht auf Christoph Kolumbus (*um 1451; † 1506) zurück, der auf seiner 1. Reise im Jahr 1492 u.a. notierte, dass die Bewohner der von ihm als Hispaniola benannten Insel, sich vor den menschenfressenden Caniba fürchteten, die von südwestlich gelegenen Eilanden kamen. Daraus entstand durch spanische Seeleute die Bezeichnungen caribe / caribal (Küstenbewohner = Karibe) sowie canibal (= Menschenfresser), die sehr schnell dann auch im übrigen Europa gebräuchlich wurden.

Diese Cariben waren beheimatet auf der Inselkette der Kleinen Antillen, so auch auf Liamuiga, Oualie, Alliouagana, Wa`momoni, Wadadli, Karukera, Wai`tukubuli, Madinina, Hewanorra, Hairouna, Becouya, Kayryyouacou sowie Camerhogue. Kaum jemand kennt diese Namen. Vergessene Namen sind es, ebenso vergessen, wie ihre einstigen Bewohner: die Kalinagoarawak-sprachige Inselkariben des Archipels. In ihrer Sprache Iñeri bedeuteten diese Namen Fruchtbares Land, Land des schönen Wassers, Land des stacheligen Busches, Land der großen Vögel, Land des Fischöls, Insel der Gummibäume, Groß ist ihr Körper, Insel der Blumen, Land des Leguans, Land der Seligen, Insel der Wolken, Insel der Riffe sowie Land der Fülle.

Wie ein großer Bogen spannt sich der Archipel der Kleinen Antillen zwischen Südamerika und Puerto Rico. Heute tragen die Inseln die Namen, die ihnen die europäischen Eroberer gaben: St. Kitts, Nevis, Montserrat, Barbuda, Antigua, Guadeloupe, Dominica, Martinique, St. Lucia, St. Vincent, Bequia, Carriacou sowie Grenada.
An die dem Genozid erllegenen Ureinwohner erinnern allenfalls Biersorten, wie „Wadadli“, „Hairoun“ oder „Kubuli“. Auf St. Lucia kündet gerade noch der Name des internationalen Flughafens “Hewanorra”, dass die Insel einst Heimat der von den europäischen Kolonisatoren als Cariben bezeichneten Indigenen war. Aber das ist dann auch schon fast alles, was auf die einstigen Bewohner hinweist, sieht man von in Museen ausgestellten spärlichen Artefakten ab. Selbst die wenigen Petroglyphen (Felsritzzeichnungen) sind oft der örtlichen Bevölkerung unbekannt. Wie sollte es auch, denn es ist eine weitgehend vergessene Geschichte und kaum jemand bemüht sich ernsthaft um das kulturelle Erbe. Heute bestimmen auf diesen Inseln die einst aus Afrika geholten Sklaven. Und mit diesem Zeitpunkt beginnt im dortigen Bildungswesen die eigentliche Geschichtsschreibung, die sich dann auch im örtlichen Schulunterricht so widerspiegelt. Dabei gibt es sie noch, die Nachfahren des Urvolkes der Karibik, die der Region ihren Namen gab. Auf den meisten Inseln trifft man sie allerdings schon seit Jahrhunderten nicht mehr an.

Auf Dominica zählen sie jedoch noch gut 3.400 Personen – zumeist Mischlinge –, die sich selbst Kalinago nennen. Wai`tukubuli – “groß ist ihr Körper” – nennen sie ihre Heimat. Und groß und reich ist das gebirgige Eiland auch wahrlich noch, denn es besitzt einen einzigartigen Schatz. Im Gegensatz zu den vielen Eilanden der Karibik, die abgeholzt, beackert und zersiedelt sind, ist diese Insel immer noch weitgehend mit tropischem Regenwald bedeckt. Unzählige Flüsse mit Wasserfällen und vulkanische Quellen verzaubern dieses Wunder der Natur. Es ist fast so, wie es immer war. Viel Land ist den Kalinago aber nicht geblieben. Gerade 15 km² groß ist das Reservat, dass ihnen die britische Kolonialmacht 1903 im abgelegenen Nordosten zwischen Concord-River und der zerklüfteten Atlantikküste zugestanden hatte.
So wie ihre Kultur im Zuge der Kolonisation darb, so schritt auch die Vermischung durch die Einheirat von Nicht-Indigenen fort. Folglich werden die anthropologischen Merkmale, die auf die Zugehörigkeit zu den Cariben hinweisen, seltener. Relativ kleine Körperstatur, asiatische Gesichtszüge mit Mandelaugen, hohe Wangenknochen und glatte schwarze Haare gehören zunehmend der Vergangenheit an. Der letzte, die alte Sprache noch fließend sprechende Kalinago, starb bereits vor 100 Jahren. Englisch und Patois bestimmen den Sprachgebrauch. Erhalten haben sich jedoch der der Bau der schweren Kanus zum Fischfang auf dem Atlantik oder die Herstellung von Flechtarbeiten aus Larouma-Pflanzenstängeln. Ursprünglich Fischer gewesen, verdienen die meisten Familien sich den Lebensunterhalt mit dem Anbau von Bananen und Kokosnüssen (Copra), die auch in den Export gehen, sowie vom Verkauf von Gemüse und Obst.
Kultureller Höhepunkt ist die Carib-Week im Monat September. An diesen Feiertagen wird Cassava (Maniok)-Brot gebacken und Cashybeery “gebraut”. Trommeln und Rasseln erklingen zu alten Tänzen. Dann schwingt auch ein Hoffen mit, ein Hoffen auf das Überleben der Kalinago im Sinne ihres Aufschreies: “500 years of Columbus lie!!! Yet we survive”.

Auch St. Vincent hat einen indigenen Bevölkerungsanteil. Die Reiseliteratur berichtet insbesondere über die „Black Caribs“ (Garifuna). Sie entstanden als Mischbevölkerung aus geflohenen schwarzafrikanischen Sklaven und den dortigen „Yellow Caribs“ (Kalinago). 1797, als sich England gegen de Indigenen und die französische Konkurrenz durchsetzte, kam es zum indigenen Genozid, der in der Deportation der überlebenden „Schwarzen Kariben“ zur honduranische Insel Roatàn endete.
Nach dem Zensus (2001) gab es auf St. Vincent 3.818 Menschen mit Carib-Abstammung. Von ihnen bewohnte Ortschaften sind Rose Bank, Fancy, Owia, Point Village, Old Sandy Bay, New Sandy Bay Village sowie Greiggs (SUTHERLAND 2013). Im letzteren Ort, dem höchstgelegensten Dorf der Insel, leben die meisten der Garifuna. Hier im bergigen Innern gelang es einigen ihrer Vorfahren sich vor der Deportation zu verbergen. Die Kalinago siedeln – abgesehen von Rose Bank an der karibischen See – an der rauen Nordostküste, wo auch das Hauptdorf New Sandy Bay Village liegt. Ihr kommunaler Landbesitz beträgt dort lediglich 0,116 km².

Die Kalinago sind St. Vincents Erbe und waren schon da, bevor die Kolonisierung durch die Briten auf ihrer Insel stattfand. Trotz Heros Day im Gedenken an Carib-Chief Joseph Chatoyer, der im Kampf gegen die britische Kolonialmacht starb, ist die heutige Situation ähnlich vakant, wie auf Dominica. Unvermischte Kalinago gab es 2019 in Sandy Bay nur noch zwei alte Männer – einer davon 102 Jahre alt (SUTHERLAND 2029). Die indigene Sprache ist auch hier erloschen. Der Kampf der Kalinago für ihre Kultur wird seit 2013 durch Rettet die Naturvölker e.V. unterstützt.

Zeremonie des Kalinago Tribe (St. Vincent & The Grenadines)

Die Datenbank des World Directory of Minorities and Indigenous Peoples enthält für St. Lucia (2007) folgende Angaben: 82,5 % (Volkszählung 2001) der Bevölkerung ist afrikanischer Abstammung. Der Rest hat afrikanisch-europäische Vorfahren. Eine kleine Population von Carib (Kalinago) lebt vor allem im Bereich von Choiseul, aber auch in anderen Ortschaften an der Westküste.
Der „Atlas Sociolingüistico de Pueblos Indigenas en Amèrika Latina“ führt auf Seite 68 aus, dass St. Lucias indigene Bevölkerungsgruppe der Bethechilokono 755 Angehörige (2005) hat. Aktiv ist hier insbesondere Albert Deterville, der aus dem Gebiet von Choiseul stammt und leitender Vorsitzender des indigenen Volkes (Bethechilokono) des Regierungsrates von St. Lucia ist (2016). Inbegriffen in das Engagement dieser Organisation sind „Forderungen auf Reparationen aus der britischen Krone für die Gebiete, die den Ureinwohnern gestohlen wurden“ (MARCIAN 2016).
Nachforschungen von CLAUZEL (2020) zufolge, gibt es „einen Hinweis auf die „BETECHILOKONO“. Es ist damit sehr wahrscheinlich, dass frühe anthropologische Studien sich auf diese ortsspezifische Subkultur auf der Insel St. Lucia bezogen.“

Für Antigua & Barbuda nennt der „Atlas Sociolingüistico de Pueblos Indigenas en Amèrika Latina“ eine Indigene Population von 258 Personen, was 0,3 % der Gesamtbevölkerung entspricht. WIKIPEDIA zufolge gibt es „a small Amerindian population: 177 in 1991 and 214 in 2001 (0.3% of the total population)“

Für alle übrigen von den Kalinago besiedelten Inseln gibt es keine Angaben über eine heutige indigene Bevölkerung. Der Grund ist, dass die Ethnie dort im Zuge der Kolonisation entweder ausgerottet oder nach Dominica und St. Vincent vertrieben wurde. Beide Eilande galten im Vertrag von 1660 zwischen den Briten, Franzosen und Kalinago als neutrale Inseln, die den Kalinago vorbehalten waren. Diese Unabhängigkeit fiel bereits wenige Jahrzehnte später der europäischen Eroberungspolitik zum Opfer. Auch die Insel St. Lucia galt 1723-1742 als Neutrales Gebiet (vereinbart von Großbritannien und Frankreich) sowie von 1748-1755 (de jure vereinbart von Großbritannien und Frankreich).